Wie kann die Lebensqualität erhalten werden ohne Wachstum?
In unserer Interviewreihe treffen wir heute mit Elisabeth „Sissy“ Freytag-Rigler vom Klimaschutzministerium eine der Gründerinnen von „Wachstum im Wandel“.
Sie hat an der Wirtschaftsuniversität Wien studiert und wurde nach einer kurzen Tätigkeit in der Privatwirtschaft von Marilies Flemming ins Umweltministerium geholt. Nach Stationen in Brüssel und Budapest ist sie seit der erste EU-Präsidentschaft Österreichs für den Bereich der Europapolitik zuständig. Heute ist sie als Abteilungsleiterin im Bundesministerium für Klimaschutz zuständig für Europa, bilaterale Angelegenheiten, EU-Erweiterungen, die Ukraine sowie Nachhaltigkeit auf europäischer Ebene. Sissy hat „vor Jahrzehnten“ das europäische Nachhaltigkeitsnetzwerk ESDN mitgegründet und ist dort immer noch im Vorstand aktiv. Außerdem hat sie nicht zuletzt „Wachstum im Wandel“ mitinitiiert über mehr als 15 Jahre mitgetragen, in der österreichischen Verwaltung etabliert und sich dafür engagiert, dass es eine entsprechende Finanzierung dafür gibt.
Das Interview führte Sophia Kratz.
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Sophia: Liebe Sissy, Du bist ja von Anfang an dabei. Wie bist Du zu Wachstum im Wandel gekommen?
Sissy: Viele glauben, es ist ein Projekt der Finanz- und Wirtschaftskrise vor 15 Jahren. Aber das stimmt nicht. Wir haben schon vor 2008 damit begonnen, uns zu überlegen: „Warum glauben alle, dass man Wachstum braucht und warum kann eine Welt ohne Wachstum nicht funktionieren?“ So haben wir uns mit Konzepten wie „Postwachstum“ auseinandergesetzt und gefragt: Wie kann die Lebensqualität erhalten werden ohne Wachstum? So sind wir mit der Zeit zu unserer Definition gekommen, die besagt, dass es letztlich darum geht, dass die Wirtschaft sozialverträglich, umweltverträglich und ressourcenschonend ist. Entscheidend ist also, sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Ob die Wirtschaft wächst oder nicht ist letztlich egal.
Sophia: Du konntest es immer auch mit Deiner Arbeit im Ministerium verbinden?
Sissy: Absolut! Ich hatte dabei auch eine sehr engagierte Mitarbeiterin, Rita Trattnigg, die das von Anfang an mit aufgebaut hat. Wir hatten immer auch finanzielle Ressourcen. Sehr früh haben wir dann eine zweite Abteilung gesucht und gefunden, die das mit uns aufzieht. Meine Abteilung ist ja für Europa zuständig, die Abteilung von Martina Schuster hat die umwelt-ökonomischen Zugänge eingebracht.
Da wir immer schon interministerielle Dialoge veranstaltet haben und gute Kontakte zu NGOs hatten, konnten wir diese nutzen, um eine Stakeholderplattform zu schaffen, die diesen Diskurs zum Thema Wachstum trägt. Dabei wurden wir auch in der politischen Hierarchie unterstützt bzw. zumindest toleriert. Bei einer unserer Konferenzen haben drei Minister*innen gesprochen, die auch aus unterschiedlichen Parteien kamen.
Sophia: Was hat sich dabei in den jetzt schon mehr als 15 Jahren verändert? Wie haben sich der Diskurs und die Zusammenarbeit über diese Zeit entwickelt?
Sissy: Wichtig waren immer konkrete Anlässe, vor allem die drei großen Konferenzen. Das waren sicher die Highlights. Da haben die Partner Committment gezeigt – inhaltlich, personell und auch finanziell. Damit haben wir dann auch jeweils einige hundert Menschen erreicht und dabei verschiedene neue Formate ausprobiert. So ist mit der Zeit eine relativ breite Community aus Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft entstanden, die sich trifft, Input bekommt und Input gibt.
Sophia: Was bedeutet Wachstum für Dich persönlich?
Sissy: Wachstum hat ja ganz unterschiedliche Konnotationen. Ich als Mensch verbinde Wachstum nicht nur mit Wirtschaft. In meinem zweiten Leben bin ich ja Gärtnerin und sehe hier Wachstum als etwas sehr Positives. Wenn ich Samen in die Erde stecke, will ich, dass sie wachsen und bei Kindern wünscht man sich auch, dass sie wachsen – aber halt nur bis zu einer gewissen Grenze.
Wachstum ist also keineswegs grundsätzlich negativ, hat positive, aber auch negative Konsequenzen und derer muss man sich bewusst sein. Das gilt auch für Unternehmen.
Sophia: Kannst Du das noch konkreter machen? Welches Wachstum ist gut? Welches ist negativ.
Sissy: Das ist gar nicht so einfach zu sagen. Nehmen wir die Autoindustrie als Beispiel. Wir wollen, dass Menschen zu Fuß gehen, Fahrrade fahren, öffentlichen Verkehr nutze und ausnahmsweise ein Auto ausborgen. Wenn es aber der Autoindustrie sehr schlecht geht, ist das auch nicht gut für die Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren. Und gerade da sieht man, wie wichtig Politik auch für die Industrie ist. So wie das derzeit läuft, ist das auch nicht gut für die Wirtschaft. Zuerst hat man das Verbrenner-Aus beschlossen und dann sind manche Politiker (es waren tatsächlich keine Politikerinnen) gekommen und hat gesagt: „Vielleicht doch nicht“. Wirtschaft braucht Rechtssicherheit, das ist wichtiger als die konkrete Höhe eines Standards.
Sozialökonomische Betriebe können Wachsen. Natürlich werden wir nicht wollen, dass mehr Atomkraft wächst, aber wir werden immer Energie brauchen.
Was man definitiv braucht in einem Land, sind Arbeitsplätze – abgesehen von einer gesunden Umwelt, der Klimaneutralität, der Natur.
Wenn wir die Lebensqualität und unseren Lebensstandard halten wollen, werden wir Arbeit brauchen.
Sophia: Was sagst du zu dem Narrativ: Wir brauchen Wachstum, um den Sozialstaat zu finanzieren?
Sissy: Wir sind in einer Situation, in der es eigentlich kein Wachstum mehr gibt. Gleichzeitig gibt es einen gesellschaftlichen Konsens, dass wir eine soziale Grundversorgung brauchen. Dazu braucht es vielleicht nicht immer Wachstum, aber es braucht eine funktionierende Wirtschaft.
Und in einem Land, das mitten in Europa liegt, ist der Wettbewerb ein großes Thema – innerhalb der EU und global. Da müssen wir aufpassen, dass nicht unsere Wirtschaft unter die Räder kommt, weil wir höhere Umwelt- und Sozialstandards haben. Da kann die Konsequenz nicht sein, dass wir unsere Standards senken. Da muss die Konsequenz nur sein, dass wir unsere Standards erhalten und dafür sorgen, dass die Standards auch anderswo hoch bleiben.
Sophia: Was ist deine Vision für Österreich und die EU in 10 Jahren? Wo stehen wir da, wie sieht die Welt aus, in der Du in 10 Jahren gerne leben möchtest?
Sissy: Die Welt verändert sich nicht so schnell. Aber für 2050 würde ich mir wünschen, dass wir klimaneutral sind – bilanziell natürlich. Ich würde mir wünschen, dass wir unsere Umweltstandards zumindest erhalten, ich würde mir wünschen, dass wir unsere Sozialstandards erhalten, ich würde mir wünschen, dass wir nicht so eine anlassgetriebene Politik machen wie zum Beispiel beim „Wolf“. Jetzt kann man natürlich darüber diskutieren, ob es zu viele oder zu wenig Wölfe gibt, aber der Anlass ist jetzt, dass man die ganze Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie aufmacht in der EU. Jetzt werden mit dem Wolf wahrscheinlich zehn andere Tiere ihren Schutzstandard verlieren. Und das ist keine gute Form der Politik. Aber ich würde mir schon auch wünschen, dass wir 2050 wettbewerbsfähig sind.
Was ich persönlich nicht einschätzen kann, aber die Welt ganz stark verändert, ist künstliche Intelligenz. Ganz viele Artikel schreibt Chat GPT. Das wird in 20 Jahren noch sehr viel mehr der Fall sein und ich denke, viele Arbeitsplätze, die wir heute haben, wird man einfach nicht mehr brauchen.
Dann müssen wir uns überlegen, ob wir eine Arbeitszeitverkürzung brauchen, die wir aber nicht finanzieren können oder wir überlegen uns, andere Arbeit für Menschen. Aber nicht alle Menschen, die jetzt am Computer sitzen, werden nachher Alte pflegen wollen. Ich würde mir aber schon eine Welt wünschen mit einer guten Lebensqualität und da gibt es noch viel zu überlegen, wie das konkret geht.
Sophia: Was haben wir mit „Wachstum im Wandel“ erreicht – wozu war das Ganze gut?
Sissy: Ich glaube, dass wir in vielen Organisationen Bewusstsein geschaffen haben. Viele unserer Partner hätten sich die Wachstumsfrage so nicht gestellt. Das waren Bundesländer wie Wien und Niederösterreich, das Wirtschaftsministerium, das Finanzministerium, das Bundeskanzleramt. Und dort geht die Diskussion weiter. Es ist gut, dass wir dabei auch Banken wie die Österreichische Kontrollbank gehabt haben, wo die Nachhaltigkeit einen sehr hohen Stellenwert hat.
Sophia: Woran hat es andererseits gemangelt?
Sissy: Eine Kritik war sicher – gerade hier im Haus – dass wir zu wenig konkret waren. Es war unseren Hierarchien immer zu viel Diskurs und zu wenig Ergebnis. Aber mir ist es persönlich wichtig, dass Menschen aus Wirtschaft, Verwaltung, Zivilgesellschaft und Wissenschaft miteinander reden. Dass diese Diskussionen zu konkreten Ergebnissen führen wollen wir aber nicht ausschließen, wir wissen es bloß nicht im Detail ob der Diskurs die eine oder andere Entscheidung beeinflusst hat, aber ich hoffe es.
Sophia: Vielen Dank für das spannende Gespräch und die Einblicke.
Fotos: F.Hinterberger