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"Man hat es mir einmal als den Zuckererbsen-Moment beschrieben: das Schuldgefühl, das einem sagt, man tue etwas Schlechtes, wenn man eine kleine Packung Zuckererbsen kauft, die per Luftfracht von einem Feld in Kenia in das Supermarktregal, vor dem man steht, gekommen ist. Aber dieser Moment geht rasch vorbei, wenn man feststellt, oh verdammt, man hat nur och eine halbe Stunde Zeit, um einzukaufen, nach Hause zu fahren, sich zu duschen und etwas Eindrucksvolles auf den Tisch zu bringen, bevor die Schwiegereltern zum Abendessen kommen. Bedenken über „Lebensmittelkilometer“, Ausbeutung billiger Arbeitskräfte und unnötig aufwändige Plastikverpackungen können bis morgen warten. Aber morgen wird es nie.“
Leo Hickmann ist Journalist und leitender Redakteur beim Guardian. Er lebt mit seiner Frau Jane und seinen beiden kleinen Töchtern in einem Reihenhaus in einem Londoner Außenbezirk. Seit einigen Jahren plagen ihn immer heftigere Schuldgefühle, aber aus diesen das entsprechende Handeln zu entwickeln ist ihm bisher nicht gelungen.
Eines Tages entscheidet er sich also, es in die Hand zu nehmen und einen Schritt in Richtung ethischeres Leben zu wagen. Nach einiger Überzeugungsarbeit ist auch seine Frau bereit, bei dem Vorhaben dabei zu sein und ihre Lebensgewohnheiten zum Wohl der Familie zu verändern.
Leo weiß von Anfang an, dass er die Meinung und Erfahrung anderer Leute hören will, die ein ähnliches Lebensexperiment gestartet hatten. Deshalb stellt er auf die Website des „Guardian“ eine Bitte um Hilfe und macht sich daran, ein Web-Tagebuch zu schreiben, das später in eine Kolumne für die Zeitung umgewandelt werden sollte.
Da er weiß, dass er ohne Hilfe von Außen nicht weit kommen wird, sucht er sich drei Experten, die sich bereit erklären, ihm einen Besuch abzustatten und bei seinem Vorhaben zu beraten.
An dem Tag vor die ethischen Berater eintreffen entscheiden sich Jane und Leo für ein „letztes Abendmahl“, an dem Sie alles essen, von dem sie denken, dass es ihnen weggenommen werden wird. Sie bestellen also einmal die komplette Speisekarte des indischen Takeaways rauf und runter und essen dann alles genüsslich auf, bis auf den Kopfsalat mit Zwiebeln, der gratis mitgeliefert wird und den sie nie anrühren.
„Während wir auf die Ankunft der Berater warten, überlegen wir krampfhaft, was wir ihnen zum Mittagessen anbieten sollen. Was isst denn eigentlich ein ethischer Berater? Sind sie Vegetarier, Veganer oder essen sie vielleicht nur Fallobst? Muss alles biologisch sein? Oder Fair Trade? Und was sie wohl trinken wollen?“
Das Paar ist nervös und trotzdem sind beide entschlossen, sich so zu verhalten als ob sie sich wegen nichts schämen müssten.
Als die Berater eintreffen und sich alle kurz vorgestellt haben, begeben sich alle in Richtung Küche. Mit Klemmbrett und Stift bewaffnet, fangen die Berater an den Kühlschrank auszuräumen und mit jedem Teil, das sie rausholen, scheinen sich mehr Probleme aufzutürmen. Danach sind die Küchenschränke an der Reihe. Ein Muster bildet sich heraus: Die Berater durchforsten jeden Winkel und zeigen dann auf, wie das, was sie finden, der Familie, anderen oder der Umwelt schadet. Alles wird unter die Lupe genommen: Wein, Thunfischdosen, Eier, Tiefkühlteig, frisches Obst, Reispackungen, Kekse, sogar die Salz- und Pfeffermühlen. Dann wird der Rest des Hauses inspiziert: jedes Gerät wird einer „Lebenszyklus-Analyse“ unterzogen, Reinigungsmittel werden kritisiert, potentielle Giftquellen aufgezeigt und Kosmetikprodukte auf ethische Bedenken untersucht. Als die Berater gegangen sind, ist das Paar völlig fertig und muss sich erst von dem Schock erholen.
„Ist es überhaupt möglich, so zu leben, wie die Berater es vorgeschlagen haben? Kann man alles, was man tut, kauft und isst, so gründlich analysieren? Nichts mehr spontan tun oder ohne über die langfristigen Konsequenzen nachdenken zu können? Ab und zu nehmen sich doch auch sicher die Berater mal frei? Gönnen sie sich nie einen Cappuccino von Starbucks? Erdbeeren außerhalb der Saison? Einen Mietwagen? Und bestrafen sie sich, wenn sie es och einmal tun? Sollte man ein solches Leben wie eine lange Diät sehen, nur dass man sich statt Schokoladen-Eclairs, Chips und Vollmilch den Treibhauseffekt, Toxine und egoistische Angewohnheiten versagt?“
Und so beginnt nun die abenteuerliche Reise in der für Leo Hickmann der Zuckererbsen-Moment zum Zuckererbsen-Drehmoment wurde.
(Daniel Mathis)