Ausblick

Im Jahr 2009 wurde in den Feuilletons grosser Tages- und Wochenzeitungen zur Wirtschaftskrise der Ruf nach einer neuen Diskussion über Werte laut. Das mulmige Gefühl, dass wir einen Bogen überspannt, zu viel konsumiert, zu hoch gepokert, zu sehr geprasst haben, liess Zweifel am ewigen Wachstum aufkommen. Selbst oft schon an der Leistungsgrenze angekommen, versuchen wir auszuloten, was wir anders machen, wie wir wieder eine Balance finden, uns entschleunigen und eine Nähe zu Dingen und Menschen finden können, die uns wirklich wichtig sind.

Die Zeit scheint reif: Kongresse und Vorträge zu „solidarischer Ökonomie“ werden von Tausenden besucht und beim Studentenprotest, der im Herbst 2009 vom Audimax der Uni Wien ausging und an den sich viele andere Universitäten anschlossen, beschäftigten sich zahlreiche Arbeitsgruppen zum Globalen Wandel. Die #occupy Protestbewegung setzt 2011 weltweit Zeichen mit der Besetzung von Finanzdistrikten und öffentlichen Plätzen. Eine Umfrage der BBC bei 29.000 Menschen in 29 Ländern ergab, dass sie sich eine grundlegende Reform der globalen Ökonomie wünschen1. Die Schuldenkrise wird uns dazu ohnehin zwingen. Und die mageren Ergebnisse der Klimakonferenzen in Kopenhagen und Durban fordern uns auf, die ökologische Wende ein Stück weit selbst in die Hand zu nehmen, nachdem wir uns auf die Lenkungsfähigkeit der internationalen Politik offenbar nicht verlassen können.

Occupy Food

Occupy Yourself? Auf der Suche nach einem ethischen Leben werden wir rasch entdecken, dass wir täglich weiterhin mit vielen Kompromissen leben müssen. Wem zum Beispiel Umsicht gegenüber der Natur wichtig ist, wird versuchen, die Nutzung von Auto und Flugzeug einzuschränken, aber kann darauf vielleicht nicht vollständig verzichten. Wer Balance im Leben sucht, plant vielleicht eine Karenzzeit ein, vertagt jedoch politisches Engagement auf eine reifere Lebensphase. Was wir tun können, ist täglich zu üben, etwa unsere Kooperationsfähigkeit oder den Mut zur Gleichmut, also uns nicht verlocken zu lassen von schnellen Verheissungen. Ethify Yourself! Beginnen wir, Wertschätzung gegenüber jenen aufzubauen, die sich um ein ethisches Leben bemühen und bieten wir Anerkennung sowie Zusammenarbeit an. Dazu wurden im letzten Abschnitt einige Medien präsentiert, die das Bewusstsein, ethisch zu handeln, schärfen und besser sichtbar machen sollen.

Auch wenn die individuelle und zwischenmenschliche Ebene das primäre Handlungsfeld ethischer Ansprüche sind, werden wir kaum vorankommen, wenn sich manche Rahmenbedingungen nicht verbessern. Da muss die Politik trotz ihrer Schwerfälligkeit einen entsprechenden Beitrag leisten, und dafür müssen wir uns genauso engagieren. Die Aufgabe einer ökosozialen Wirtschaftspolitik ist heute, das Kapital zu zähmen, also den Kapitalmarkt politisch und den Warenmarkt ökologisch zu kontrollieren. Francis Fukuyama, der mit dem Fall der Mauer das Ende der Geschichte mit dem endgültigen Einzug liberaler Demokratien beschreibt, mahnt nun die Ökonomen, sich von ihren Labormodellen zu verabschieden und der Wirklichkeit wieder ins Auge zu schauen. Zwar hatten Ökonomen die Asienkrise genau studiert, jedoch offenbar daraus nichts gelernt - die spieltheoretischen Modelle haben versagt. Ansätze wie eine Neubewertung der Wachstumsindikatoren, wie wir sie mit dem Happy Planet Index kennen gelernt haben oder wie sie die Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz und Amartya Sen mit dem Nettoinlandsprodukt fordern, müssen weiterentwickelt and schlussendlich auch angewendet werden. Mit dem Ethify Quotient können wir versuchen, an Bewertungen selbst teilzunehmen und ein kritisches Bewusstsein bei Konsumentinnen und Produzenten zu erzeugen.

Neben einer schärferen Regulierung der Finanzmärkte und einer Einführung einer Finanztransaktionssteuer, wie sie nicht nur von vielen NGOs, sondern auch von einzelnen Regierungsvertretern gefordert wird, benötigen wir weitere Anreize zum Ausbau einer Gemeinwohlökonomie. Christian Felber schlägt Steuererleichterungen oder eine Bevorzugung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge für jene Unternehmen vor, welche den Gemeinnutzen vor das Ziel der Profitmaximierung stellen. Eine Gemeinwohlbilanz soll Unternehmen zunächst Orientierung liefern, später dann konkrete Vorteile. Marktmechanismen sollen weiterhin Innovationen und einen Wettbewerb von Qualität und Preis ermöglichen. Moderate Gewinne für Investitionen sind ok, aber nicht den Rahm abschöpfen und mit überhöhten Gewinnerwartungen zu kurzfristigem unternehmerischem Handeln verleiten.

Auch Deutschland, Österreich und die Schweiz huldigen erfolgreich einen Exportfetischismus, welcher nicht nur zu Überkapazitäten führt sondern eigentlich die Euro-Währung unter Druck setzt5. Denn die Exportüberschüsse müssen ja irgendwo konsumiert werden, was etwa die Handelsdefizite in Griechenland oder Spanien ankurbelt, die zu deren weiteren Überschuldung führen. Auch im Export wäre weniger eigentlich mehr und würde zu mehr Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Balance führen.

Konzerne üben heute viel Macht und politischen Druck aus, und beeinflussen mit ihren Wertvorstellungen Demokratien durch Lobbying oder PR erfolgreich, um ihre Interessen durchzusetzen. Beispielhaft sei hier die mediale Kampagne um die Schweinegrippe im Herbst 2009 erwähnt, welche geschickt von Pharmaunternehmen inszeniert worden war, damit Gesundheitsministerien Impfstoffe in grossen Mengen ankaufen. Nun, jedes gerettete Leben soll uns viel Wert sein, doch hätten mit dem selben Mitteleinsatz tausendemale mehr Menschen mit imprägnierten Moskitonetzen ausgestattet werden können, denn an Malaria sterben nach wie vor jährlich 1,4 Millionen2. Konzerne müssen wieder gesund schrumpfen oder notfalls in kleinere Einheiten zerschlagen werden, damit ihr Einfluss überschaubar bleibt. Grosse Unternehmen werden zudem oft von Personen geführt, welche sozialpsychologisch auffällig, gierig und suchtanfällig sind. Deren Werte wollen wir nicht über die Macht starker Marken länger vermittelt bekommen, denn deren Waren und Dienstleistungen sind meist nicht fair produziert. Die Europäische Union wäre ein genügend grosser Markt, um verbindliche Richtlinien für Unternehmensstrukturen oder Bedingungen für eine faire Produktion zu erlassen und weltweit ihre Lieferanten dazu zu erziehen. ISO Standards und Richtlinien für ökologische Landwirtschaft oder Fairen Handel gibt es bereits, sie müssten lediglich wie technische Standards für die Sicherheit von Elektrogeräten oder für Spielzeug verbindlich eingefordert werden. Kaum ein Unternehmen weltweit kann es sich leisten, nicht mit Europa zu handeln, womit sich viele Erzeuger solchen Verordnungen wohl oder übel unterwerfen würden3.

Aus den Ethify Werten liessen sich zahlreiche weitere politische Forderungen ableiten, doch dies würde den Zweck und den Umfang dieses Buches sprengen. Einige seien hier beispielhaft aufgezählt:

  1. Die EU verordnet verbindliche Normen für ökologische Produktion und fairen Handel.

  2. Die Steuerlast wird grundlegend umverteilt: Arbeit und Leistung müssen sich wieder lohnen, Vermögende sollen real auch Steuern zahlen.

  3. Wer das Glück hat, zu erben, soll einen Teil abgeben oder eine angemessene Erbschaftssteuer bezahlen, zumindest für Erbvermögen die gösser sind als der Wert eines Einfamilienhauses.

  4. Freiheiten für moderne und innovative Unternehmen weiterhin gewährleisten, dabei auf deren kooperative Organisationsform und limitierte Grösse achten.

  5. Weitestgehende Liberalisierung der Gewerbeordnung (mit ihren Ursprüngen aus dem Ständestaat) und Vereinfachung des Steuerwesens, um den Weg in eine selbstständige Tätigkeit nicht unnötig zu behindern.

  6. Das Bankensystem neu ordnen: Öffentliche Geschäfts- und Infrastrukturbanken werden von privaten Investmentbanken strikt getrennt.

  7. Weltweite Einführung einer Transaktionssteuer im Promillebereich und Steueroasen schliessen: dies würde Spekulationen mit Hebelwirkungen und damit das globale Finanzcasino abbremsen.

  8. Die Raumordnung darf nicht länger das Kalkül für mehr Steuereinnahmen von Bürgermeistern sein, sondern muss in grossen Zusammenhängen geplant werden, um eine weitere Zersiedelung zu bremsen.

  9. Viele Menschen haben keine legale Behausung, auch in Europa oder den USA. Gebäude oder Etagen, die länger als ein Jahr leer stehen, dürfen nicht länger Spekulationsobjekt bleiben und müssen gratis zum Squatting oder gegen Übernahme der Betriebskosten angeboten werden.

  10. Reale Kosten bei allen Verkehrsmitteln berechnen, einschliesslich aller Folgekosten (Landschaftsverbrauch, Umweltbelastung, Unfallopfer, Entsorgung) und daraus klare Prioritäten in der Förderpolitik ableiten.

  11. Bezahlte Karenzzeiten und Kinderbetreuung für jede Altersgruppe ausbauen.

  12. Abkehr von einer Wachstumsideologie, die bisher auf Kosten von Umwelt und Fairness ökologische Probleme und Ungleichheiten fördert. Mut zur Reduktion! 

Welcher Rahmen ist für die Lösung globaler Probleme nötig? G8 oder G20 Gipfel nehmen sich stets viel vor, doch gehen meist ohnmächtig auseinander. Ulrich Beck sieht hinter der Devise "Es geht alles nur global - und deshalb geht gar nichts!" eine gezielte Entkopplung von Reden und Handeln. "Je unerreichbarer das verkündete Ziel, desto unbedenklicher kann man drauflos fordern, sich als Vorkämpfer des globalen Guten, Schönen und Notwendigen profilieren - ohne Furcht, sich die Finger schmutzig machen zu müssen." 4

Für viele Probleme benötigen wir globale Lösungen, und zwar mehr als nur die Rettung grosser Banken. Wenn Bündnisse und bestehende Institutionen wie die UNO nicht weiterkommen, dann können wir unsere Hoffnung eigentlich nur auf das Engagement einzelner Regionen und auf die Selbstorganisation der Menschen setzen. Zu letzterem gibt es bereits eine Reihe von Beispielen, wie mit Werkzeugen des Internets globales Wissen erzeugt, Handeln ausgelöst und koordiniert werden kann.

Us Now - Eine Dokumentation über Open Source Governance, 2009

Der Ethify Quotient und die vorgestellten Medien bieten eine Möglichkeit für Individuen und Unternehmen, ihre Grundwerte zu überprüfen, denn von ihnen geht die Primär - Energie für Veränderung aus. Politische Forderungen wären daraus ebenfalls ableitbar, müssen jedoch entweder in Gremien und Parteien hineingetragen werden oder wir motivieren uns, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Dass das Open Source Prinzip mit einer entsprechenden Portion an Fairness, Kooperation und Geduld auch gelingen kann, zeigte nicht nur Social Media bei den Aufständen in Nordafrika, sondern auch lokale Initiativen von Nachbarn oder globale Aktionen, wie sie etwa jene von Avaaz oder der #occupy Bewegung. Diese formulierte ihre Anliegen bei einem Koordinationstreffen in Linz 2012 wie folgt:

Neue Geldsysteme umsetzen
Aufklären und Hinterfragen des Finanz- und Geldsystems. Überwindung des zinsbasierten Schuldgeldsystems. Gemeinschaftliche Geldschöpfung mit Transparenz und gemeinsames Gestalten von Alternativen. 
 
Freie Entfaltung ermöglichen
Was macht uns glücklich und bedeutet Lebensqualität? Wir benötigen Zeit, Freiheit und Ressourcen zur persönlichen Wertefindung und zum offenen Hinterfragen. Schaffen wir Möglichkeiten der selbstbestimmten Entdeckung und Erweckung des menschlichen Potenzial, überwinden Schranken des Urheber- und Patentrechts und pflegen die Commons.
 
Grundbedürfnisse sichern
Gemeinschaften achten darauf, dass für jeden und jede ein Platz zum Leben, Ernährung, Gesundheit, Bildung, Glück und Liebe möglich sind. Wir übernehmen Verantwortung für uns, die Umwelt und den Nächsten und geben Anerkennung.
 
Ganzheitliche Bildung schaffen
Wir wollen Bildung neu denken und umsetzen. Sie  soll jeden und jede zu einem sinnerfüllten und selbstbestimmten Leben befähigen, mit dem Ziel einer gerechten Gesellschaft und globaler ökologischer Zukunftsfähigkeit.
 
Demokratien weiter entwickeln
Politik lebt von aktiver Teilhabe. Möglichkeiten der direkten Demokratie sollen ausgebaut und mit neuen Methoden (Liquid Democracy, Konvente, Planungsgruppen) belebt werden. Volle Transparenz der Entscheidungen auf allen Ebenen. 
 
Fair und achtsam wirtschaften
Ökologisch nachhaltige Produktion in möglichst lokalen Kreisläufen.  Globale Überwindung der Knappheit anstatt Maximierung von Gewinnen und wertloser Symbole.

Die Ethify Werte könnten eine Sensibilisierung für ethische Ziele bewirken, seien sie auf persönlicher, gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Ebene. Interessant wäre eine „vorher – nachher“ Untersuchung durchzuführen: wo stehen Leute, bevor sie sich mit Ethify auseinandersetzen und wo stehen sie nachher? Medien wie AdBuster können nur sensibilisieren. Das Ethify Journal ist mehr, ein Werkzeug, nicht nur die eigene ethische Positionierung zu entdecken, sondern auch konkrete Veränderungswünsche zu finden und eine Aktion zu setzen. Insofern geht Ethify weit über ähnliche Initiativen wie das Projekt Weltethos hinaus, wo der kleinste gemeinsame Nenner unter Weltreligionen gesucht wird. Ethify ist überkonfessionell und sollte mit jeder religiösen Überzeugung kombinierbar sein, sofern sie nicht radikal ist. Sie kann aber auch losgelöst von jedem Glauben geübt werden. Die Ethify Werte sind ein Angebot, darüber nachzudenken, ob ein Gerüst abgestimmter Werte unser Zusammenleben ein Stück weit vereinfachen und fairer machen kann. Es dürfen auch andere Werte sein, auf die sich Familien, Firmen, Gemeinden oder Regionen einigen. Hauptsache wir beginnen, wieder über Werte zu reden. Und nach ihnen zu leben.


1:http://news.bbc.co.uk/2/hi/business/7970625.stm

2:http://www.sackstark.info/?p=15802

3: Dank an Andreas Idl von cropster.org für diesen Hinweis aus dem Buch Global Fair Trade.

4: Beck 2011, p. 139

5: Der Standard, 20.3.2010, p 36 sowie http://wko.at/statistik/eu/euah.htm