Submitted by Gast on
In meinem Freundeskreis befinden sich einige Jungärzte. Als wir vergangene Woche wieder einmal zusammen gesessen sind, erzählte einer von ihnen von einer Situation aus dem Nachtdienst, bei dem eine sehr schwere Entscheidung zu treffen war. Alleine die Tatsache, über so etwas entscheiden zu müssen, hat mich sehr zum Nachdenken gebracht. Das beeindruckende dabei ist, dass diese Jungärzte, kaum älter als 25 Jahre, tag täglich solche Entscheidungen treffen müssen … nun aber zur besagten Situation:
Eine 85-jährige Patientin wird um 2 Uhr in der Früh mit dem Notarzt vom Altersheim eingeliefert in ein kleines regionales Krankenhaus eingeliefert. Vor Ort ist wie jede Nacht nur ein Jungarzt. Untersuchungen ergeben, dass mehrere Vorerkrankungen (Diabetes, Herzmuskelschwäche, miserable Blutwerte) und die Altersschwäche der Patientin zu lebensbedrohlichen Komplikationen geführt haben. Die Patientin ist laut Altersheim seit Tagen in einem sehr schlechten Zustand (Verweigerung der Nahrungsaufnahme, usw.) und liegt im Sterben. Der diensthabende Jungarzt muss nun in wenigen Minuten entscheiden, was gemacht werden soll. Die Patientin kann nicht mehr selbst darüber entscheiden, Angehörige sind um 2 Uhr früh nach mehrfachen Versuchen nicht erreichbar. Hinzu kommt, dass in dieser Nacht die Intensivstation bereits überbelegt ist und die Patientin in ein anderes Spital verlegt werden müsste, um alle möglichen lebensverlängernden Maßnahmen durchführen zu können.
Der junge Arzt steht nun vor folgendem Dilemma: Es gilt nun zu entscheiden, ob das Risiko des Transportes in Kauf genommen werden soll oder die Verlegung auf die Normalstation durchgeführt wird. Sowohl der Transport, als auch die Verlegung auf die Normalstation mit eingeschränkten Überwachungsmöglichkeiten bergen ein großes Risiko. Beide Entscheidungen sind rechtlich abgesichert. Die Entscheidung liegt alleine beim diensthabenden Arzt. Welche Entscheidung ist ethisch/moralisch besser? Das Zufügen zusätzlicher Schmerzen eines im Sterben liegenden alten Menschen, der mit großer Wahrscheinlichkeit den Transport nicht überleben wird, der dafür aber alles Erdenkliche zum „Überleben“ der Patientin beitragen würde oder die Verlegung auf die Normalstation, um der Patientin ein Sterben in Ruhe zu ermöglichen?
… die Patientin hat die Nacht aufgrund der schwerwiegenden Komplikationen nicht überlebt. Die Angehörigen bedankten sich tags darauf beim betroffenen Arzt für dessen Entscheidung.
Auch nach Stunden des Diskutierens, ob eine rationale Entscheidung im dargestellten Dilemma möglich sei, sind wir zu keiner allgemein gültigen Lösung gekommen. Was uns jedoch klar geworden ist, ist die Tatsache, dass der Ausgang der Entscheidung von vielen Faktoren abhängt. Schlussendlich muss der betroffene Arzt mit seiner Entscheidung leben können. Denn Ärzte sind es, die täglich Entscheidungen für fremde Menschen über deren Gefühle, Schmerzen und deren Leben entscheiden müssen.
Erläuterung zum genannten Beispiel
Ärzte müssen u. a. auch seit der Einführung der Intensivstation und verbesserter Technik und Therapieformen immer öfter die Entscheidung treffen, ob ein Patient mit lebensverlängernden Maßnahmen am Leben erhalten werden soll oder nicht. Grundsätzlich gilt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Ist dieser aber aufgrund körperlicher oder geistiger Defizite nicht zur Selbstbestimmung fähig, so müssen Angehörige für die Patienten entscheiden. In bestimmten Fällen (Notfall, nicht Erreichbarkeit der Angehörigen) müssen Ärzte die Entscheidung über diese Maßnahmen übernehmen. Trotz rechtlicher Absicherung können getätigte Entscheidungen unterschiedliche Konsequenzen für den Patienten haben.
Weiterführende Literatur:
Baumann-Hölzle, R.; Muri, C.; Christen, M. (2004): Leben um jeden Preis?: Entscheidungsfindung in der Intensivmedizin. Bern: Peter Lang AG Verlag.